Der Wind war in den letzten Tagen DAS vorherrschende Thema, denn er dominierte uns und unseren Tagesablauf nach Belieben. Zusammen mit Spencer Ryan, einem sympathischen Amerikaner mit italienischem Pass, nahmen wir die nächsten Tage in Angriff. Zu Dritt starteten wir von Rio Grande aus, einer 50'000 Einwohnerstadt und Zentrum für die Schafzucht (bis zu 40'000 Schafe pro Farm) und kamen gemeinsam im Wind etwas schneller voran, da man, je nach Windrichtung, im Schatten des Vorderen fahren konnte. Alle 15 min. wechselten wir uns mit Führen ab. 10 Km nach Rio Grande nahm der Wind jedoch dermassen an Stärke zu, dass man das Fahrrad kaum mehr steuern konnte. Vor allem dann, wenn er einem voll von der Seite erwischte. Wir benötigten die ganze Strassenhälfte, so sehr warf uns der Wind hin und her. Fahren zur gleichen Zeit auch noch Autos und Trucks mit über 100 km/h an dir vorbei, so wird dies abenteuerlich gefährlich. Auf der ersten Etappe nach Rio Grande zwangen uns die Sturmwinde 6 km vor dem Camping gar vom Rad abzusteigen. Ein Pickup-Fahrer hatte unsere Zickzack Fahrt von Weitem schon gesehen, erbarmte sich unser und bot an uns mitzunehmen. Völlig entkräftet und ohne gross zu überlegen, nahmen wir dankend an, aber wirklich nur für 6 km, bis zur nächsten Estancia (Ea. Sara), was bei diesem Wind über eine Stunde Fahrzeit betragen hätte.

Harte Arbeitstage haben wir hinter uns ... Wir haben eine Taktik gefunden, um dem Wind nur ein bisschen "aus dem Weg gehen" zu können. Von 06:00 Uhr auf 05:00 Uhr und dann auf 04:00 Uhr haben wir die Tagwache verschoben, um zwei Stunden später losfahren zu können. In den frühen Morgenstunden herrscht nur noch "leichter" Wind (Gegenwind), welcher aber bereits um 9:00 sehr stark wird und ab 11:00 Uhr das Radfahren unmöglich macht. Bis ca. um die Mittagszeit sind wir so dann mehr oder weniger in den Sätteln gesessen - mit kurzen Stundenhalten und allen zwei Stunden einer ausgedehnten Essenspause. So konnten wir doch einige Stunden "anständig" fahren und Kilometer zurücklegen. Dann haben wir uns ein windgeschütztes Plätzchen gesucht um uns sechs bis sieben Stunden um "die Ohren zu schlagen". Wir haben ausgiebig gegessen, geschlafen, gelesen, Material getrocknet, Wasser gefiltert usw. Am Abend, wenn der Wind wieder nachgelassen hat, bestiegen wir nochmals unsere Stahlrösser und fuhren eine bis eineinhalb Stunden, bevor wir dann entgültig unser Nachtlager aufschlugen.

Wir sind vom Glück behaftet, dass wir ausser dem Starttag in Ushuaia, immer schönstes Wetter hatten. Am Morgen ist es zwar nur 4°C warm wenn wir losfahren, aber dafür haben wir ja unsere warmen Kleider mit. So sah unsere Route aus: Nach 2 Tagen haben wir von Rio Grande aus San Sebastian erreicht, wo die Strasse wieder nach Westen drehte und wo wir auch die Grenze von Argentinien nach Chile überquerten. Gleich dahinter begann dann eine der ersten grossen Herausforderungen für uns - 150 km nach Porvenir, durch absolut leere Pampa, ohne jegliche Versorgungsmöglichkeiten und voll gegen den Wind. Ca. 3 Tage haben wir für diese Strecke veranschlagt. In Rio Grande haben wir alles Essen eingekauft (für 5 Tage) und in San Sebastian das Wasser in unseren Wassersäcken aufgefüllt (für 3 Tage). Die Überquerung der Landesgrenze hat ein wenig Zeit beansprucht, weil uns die Grenzbeamten gleich gefilzt und all unser frisches Obst und Gemüse beschlagnahmt haben (ja, wir wussten es zuvor, hofften trotzdem, dass wir was "rüberbringen" könnten).

Kaum die Grenze überquert war fertig mit Asphaltstrasse und es hiess ab jetzt nur noch Schotterstrasse, also Rüttel-. Rüttel-, Rüttelpiste!!! Dies beachteten wir jedoch kaum, denn jetzt tat sich eine Landschaft auf, die für uns einfach nur phänomenal war. Mit einem Glücksgefühl im Bauch radelten, oder besser gesagt, schwebten wir mit den Fahrrädern nur so hinein in diese menschenleere Pampa. Unendlich weite, leicht hügelige Grasflächen taten sich auf, unter einem blauen, mit kitschigen Schäfchenwolken belegtem Himmel. Der Auto- und Truckverkehr hat auch markant abgenommen und so konnten wir die Landschaft noch mehr geniessen. Jetzt hatten wir zum ersten Mal wirklich das richtige Gefühl von "Freedom" und von dem was wir in unseren Träumen gesucht haben...

Ein grosser Schreck !!! In den frühen Morgenstunden nach San Sebastian herrschte ausnahmsweise fast kein Wind (wir konnten es kaum glauben). Mit ca. 20 - 25 km/h, sind wir ziemlich übermütig über die Schotterpisten gedonnert ... bis sich das Vorderrad von Andis Fahrrad im seitlichen, steil abfallenden, Schotter- und Sandwalm verirrte und zu rutschen begann. Die ungefähr 120 Kilogramm (Fahrrad, Gepäck und Andi) wieder unter Kontrolle zu bringen war jedoch fast unmöglich - EIN - ZWEI - DREI Rettungsversuche und beim vierten ging das Fahrrad rechts in den Graben und Andi flog weiter gerade aus ... durch die Schwerkraft kam er dann irgendwann mal wieder auf den Boden zurück (logischZwinkern) und wurde durch den Schotter ziemlich rasch abgebremst. Es war ein deftiger Sturz, bei dem er mit Schulter und Kopf heftig auf dem Boden aufschlug. Ein Wunder, dass das Schlüsselbein bei dem Aufprall nicht in zwei Teile ging und ohne Helm, hätte es ziemlich übel ausgesehen. Mit einer Prellung an der Hüfte und Schulter, Schürfwunden und riesigem Glück konnte Andi die Fahrt nach einer halben Stunde wieder fortsetzen. In der Formel 1 würde man sagen: "ein typischer Fahrfehler"! Andi sagte: "ein typischer Anfängerfehler"! Nicht zu vergessen, dass Marion, an dritter Position liegend, leider auch nicht rechtzeitig bremsen konnte und nach dem Crash mit Spencers Hinterrad zu Boden ging und ein paar blaue Flecken davontrug. Dieses Erlebnis hat uns gezeigt, dass es auch mit Tourenrädern gefährlich werden kann und wir überall vorsichtig und konzentriert fahren müssen. (Bilder der Sturzopfer werden hier aus Pietätsgründen nicht veröffentlicht!)

Die Schmerzen und das Schreckenserlebnis waren in Anbetracht der berauschenden Szenerie schon bald wieder vergessen und wir pedalten weiter Richtung Westen. Vor uns ein grauer Strich (unsere Schotterpiste) und links und rechts NICHTS. Nach 50 kgsm erschien links das Meer, die Bahia Unútil, was die Szenerie noch verschönerte. Wieder konnten wir einige Guanakos (ähnlich dem Lama) sehen. Glücklicherweise hatten wir genügend Wasser mit dabei, denn die auf der Karte eingezeichneten Bäche und kleinen Seen waren alle komplett ausgetrocknet. Ein solches Bachbett bietete uns jedoch einen guten Windschutz, als wir unsere, vom Wind verordnete, Nachmittapause machten.

Entgegen allen Vorhersagen und den üblichen Wetterbedingungen hier, haben wir ein optimales und sehr seltenes Zeitfenster für die Durchquerung dieser Pampa erwischt. Am zweiten Tag konnten wir mit sehr milden Winden fast den ganzen Tag fahren. 40 Km vor Porvenir führte die Strasse ans Meer hinunter und der Küste entlang. Langsam wurde die Landschaft wieder hügeliger und da und dort sah man von weitem eine Estancia. Links und rechts der Strasse weideten vermehrt Schafherden und Pferde. Auch begegneten uns 5 Radfahrer, welche allsamt in der entgegengesetzten Richtung, also mit dem Wind, unterwegs waren. Wenn es auch zum Ende hin noch hügeliger und sehr streng wurde, erreichten wir bereits am späten Nachmittag des zweiten Tages, nach einer 84 Km Etappe, Porvenir. Porvenir ist eine kleine, verschlafene, aber doch hübsche Provinzhauptstadt mit 5000 Einwohner. Eigentlich haben wir nicht geplant so weit zu fahren, aber es kam einfach so - wie so vieles anderes ... Wir hatten Glück und erwischten gerade noch die 18:00 Uhr Fähre nach Punta Arenas. So verliessen wir nach 16 Tagen das wunderschöne Tierra del Fuego und fuhren mit dem Schiff langsam in das vor uns liegende PATAGONIEN !

Punta Arenas, welche als südlichste Grossstadt gilt, ist eine sympathische Stadt mit 115'000 Einwohner. Hier werden wir uns einige Tage ausruhen und die Annehmlichkeiten einer Dusche, einem Bett und den leckeren Sachen im Supermarkt ausgiebig geniessen. Auch muss bereits das eine und andere "Bobochen" ausgeheilt werden. Hier in Punta Arenas trennten sich (vorläufig) auch die Wege von Spencer und uns. Wir hatten eine sehr schöne und interessante Zeit mit ihm Da er auch fliessend Spanisch sprechen kann, konnten wir doppelt von ihm profitieren. Er gab uns zahlreiche Tipps in Spanisch und Englisch.

Nach einer Angewöhnungszeit haben wir uns jetzt so richtig an das Leben als Radfahrer akklimatisiert und wir befinden uns mitten im Abenteuer ... es gefällt uns immer besser und besser und wir nehmen alles noch viel intensiver wahr. Es ist absolut genial - nicht nur die Landschaften, das Radfahren und das Leben im Zelt - wir machen auch sehr, sehr viele schöne Bekanntschaften mit anderen Leuten und Reisenden.

Alles Liebe und viele Grüsse

Marion & Andi